Pappelallee in Ostingersleben

Pappeln im Sommer
Foto: Monika Hülshoff
Sachsen-Anhalt
Lieblingsallee von Monika Hülshoff, Beendorf:

Ich war noch ziemlich klein, und wir wohnten als Ostzonenflüchtlinge in einer Baracke in Menden, einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Die Straße war unendlich lang und führte ganz geradeaus zum Bahnhof, der zwischen den Ortsteilen Lendringsen und Hüingsen lag. Rechts und links der Straße residierten riesige Pappeln, und zu unserer Übergangswohnung ging es links ab, dann noch ungefähr hundert Meter weiter - und ich war zu Hause. Die Pappelallee gibt es schon lange nicht mehr; es ist jetzt eine moderne Straße, die zu einem Gewerbegebiet führt. Natürlich ist auch unsere Baracke weg, ebenso wie die alte Ziegelei hinter dem Flüsschen, wo meine Freundin Jutta damals wohnte. Als ich von "Lieblingsalleen gesucht" las, fiel mir diese Allee sofort wieder ein, und ich suchte eine neue Pappelallee, fand aber keine. Einen Moment lang überlegte ich sogar, einen Finderlohn für eine Pappelallee auszusetzen.

Einen schönen Ersatz konnte ich dann aber in der Nähe meines jetzigen Wohnortes finden. Die alte Einfahrt der ehemalige LPG in Ostingersleben (Sachsen-Anhalt) ist abgesperrt mit einem rostigen, schief in den Angeln hängenden Tor. Brennnesseln und Goldruten rahmen die halb versunkenen Pfähle ein und begleiten einen Eisenzaun seines Weges. Holunder hat sich angesiedelt und trägt Früchte, und blühende Gräser und Kräuter besetzen auch noch den kleinsten Platz. Der alte Weg ist zugewachsen, vom Wind abgebrochene Äste liegen wie Kraut und Rüben und verwehren anscheinend den Zutritt. Zwischen den alten Pappeln wuchern Wildkräuter vergangener Jahre.

Ich hoffe, das Foto lässt den Zauberweg aus meiner Erinnerung erkennen. Die Geschichte, die ich zu der Pappelallee meiner Kindheit geschrieben habe, ist schon ein paar Jahre alt, aber mein beim Schreiben gefühltes Gefühl ist noch dasselbe. Aber lesen Sie selbst:

Papperlapapp

Als ich am Abend im Bett lag, dachte ich darüber nach, wieso es schlecht ist, in einer Baracke zu wohnen. Die Kaufmannsfrau hatte mich heute gefragt: "Du bist also das Mädchen, aus der Baracke?" und ihr Tonfall war... ja, wie?... ich weiß nicht; jedenfalls wurde ich ganz verlegen und schämte mich sogar ein bisschen. Was mochte sie wohl damit gemeint haben? Wir hatten doch alles, was wir brauchten: eine Küche mit einem gemütlichen Bullerofen und einem Tisch in der Mitte, der behäbig auf vier Elefantenbeinen allem standhielt, für jeden von uns einen Stuhl, und für Papa sogar ein Sofa für die Mittagspause. Und wir hatten jeder ein Bett; nicht so wie nebenan bei Grabbes, da mussten sich Edgar und Otto eines teilen.

Es war noch hell draußen und ganz warm. Mein Fenster stand auf Kippe und ein feiner Luftzug wellte die Gardine und staffierte die Himmelsberge, die ich zwischen dem Fensterkreuz sehen konnte, mit feinen Häkelblüten aus und umkränzte sie mit der mittleren und unteren Bordüre. Der leichte Wind trieb die Wolken bedächtig von einem Fensterkästchen in das nächste und sortierte sie ordentlich. Ich wusste, wenn ich lange genug wach blieb, könnte ich die Dunkelheit heran schleichen sehen - heimlich und leise wie unser Kater Antek es tat, wenn er sich auf den Platz in der Sofaecke pirschte und nicht von Oma erwischt werden wollte. Manchmal, wenn es ganz spät und stockrabendunkel war, zwinkerten Sterne durch die Häkelstäbchen, und wenn ich dann mit den Augen zwinkerte, plinkerten sie zurück.

'Diese dumme Frau', dachte ich. Ob sie es auch so schön hatte? Ich setzte mich im Bett auf, reckte mich höher und konnte weiter hinten unsere Pappeln sehen. Diese prächtigsten und größten und höchsten Bäume der Welt wuchsen auf beiden Seiten der Straße und begleiteten mit sachtem Schwung den Weg, der zu unserer Baracke führte. Als wenn sie zur Parade angetreten wären, standen sie stramm, türmten und reckten und streckten sich, geradewegs bis in den Himmel, und heute Nachmittag, als ich unter ihnen nach Hause gelaufen war, hatte ich an ihnen hinaufgeschaut, bis ganz nach oben und noch weiter. Und mir war schön schwindelig geworden, und ich hatte stehen bleiben müssen. Wolken zogen zwischen den Ästen durch, und das kleinste bisschen Wind krempelte die silbrigen Unterseiten der Blätter nach oben, ließ sie wispern und flüstern, als ob sie sich leise geheime Geschichten erzählten, die niemand hören durfte.

Papa hatte mir gesagt, dass sie Pappeln heißen, weil es sich anhörte, als ob sie plapperten, und wenn ich mich an den Stamm schmiegen und ihn umarmen würde, dann könne ich es hören.

"Lege nur dein Ohr an den Stamm", hatte er gesagt, "das kratzt ein bisschen, weil die Borke so rau ist. Du musst ganz leise sein - psst! Und wenn du die Augen schließt und dich konzentrierst bis deine Stirne runzlig ist und deine Ohren wie verrückt jucken, und du glaubst, dass du es keinen Moment mehr aushältst, dann hörst du es! Die Elfchen. Sie singen; und die sind klitzeklein und zart und samten wie grüne Raupen. Und sie haben Doppelflügel wie Schmetterlinge und feine, blonde Haare. Die sind wie ein Hauch, so, wie Spinnweben." Ich war ganz leise gewesen. Und ich hatte sie gehört! Es klang genauso wie das Piepsen der jungen Vögel, die ganz oben im Nest wohnten. Und ich hörte die Elfchen wispern und flüstern und raunen und munkeln; manchmal schrieen sie auch leise, zirpten wie Grillen oder kreischten wie die nachtdunklen Krähen, die ganz oben ihr Haus hatten. Geheimnisvoll schillernde Käfer, grüne und gelbe und Raupen mit Tupfen auf ihren Rücken, Spinnen mit ganz langen Beinen - sie alle wohnten da, und ich horchte und horchte und meine Arme juckten, und ich wollte loslassen und mich kratzen - aber es war so schön und da hielt ich doch noch ein bisschen aus. Und dann hatte ich die Augen aufgemacht und hinauf gesehen in den Himmel, und die Sonne hatte ihre Strahlen durch die silbergrünen Blätter flimmern und flirren lassen. Tupfen und Kreise kugelten, kullerten, kringelten sich bis hinunter zu mir. Oh, das war so schön! Dann hatte ich doch losgelassen, war ins Gras geplumpst und ganz still liegen geblieben bis mein Atem wiederkam.

Jetzt lag ich in meinem Bett unter dem Fenster. Es war dunkel geworden, Sterne zwinkerten durch die Gardinenbordüre und ich plinkerte ihnen zu. Ich lauschte dem Plappern der Pappeln "Papperlapapp, papperlapapp", raunten sie, und ich dachte: "sie haben Recht, die Pappeln!" Papperlapapp - diese dumme Frau! Was wusste die schon? Dann muss ich wohl eingeschlafen sein.


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